Zohar Fraiman schöpft in ihren verschlüsselten Allegorien zwischen Naturschauspiel, Pornografie und Verklärung aus einem ikonografisch breiten Fundus. Dieser umfasst Anleihen aus der religiösen Symbolik, kunsthistorische Motive, filmische Sequenzen und Figuren bis hin zur Psychologie und Alchemie C.G. Jungs. Scheinbare Gegensätze verschmelzen dabei zu einem neuen Ganzen, das Brücken schlägt zwischen der eigenen Lebenswelt und einem erahnten Anderen. Es sind kalkulierte Bildrätsel nicht ohne Provokation und ironische Brüche.
Das querformatige Bild Kissing at the Golden Gate aus dem Jahr 2016 ist voller solcher Anspielungen. Der auf einer blauen Eisfläche über einer Frau im roten Kapuzenkleid lehnende graue Fuchs scheint für diese nur auf den ersten Blick eine Bedrohung. Beide liebkosen sich. Hinter deren Köpfen lassen sich zwei hellblaue Kreisscheiben erkennen. Die Ähnlichkeit mit dem Heiligenschein in der christlichen Kunst ist nicht zufällig. Tatsächlich ist das Motiv der Begegnung Joachims und Annas an der Goldenen Pforte aus dem Freskenzyklus von Giotto di Bondone in der Cappella degli Scrovegni in Padua (um 1304-1306) entlehnt. Die Szene, in der sich Anna und Joachim vor der Goldenen Pforte, daher der Titel, in ähnlicher Haltung küssen, ist in Fraimans Fassung horizontal gedreht. Das Bild ist allerdings mehr als eine Referenz an den Künstler Giotto, der die Malerei durch eine neue szenische Einheit von Zeit und Raum revolutionierte. Die Künstlerin ersetzt die Figur des Joachim durch ein wildes Tier, die liegende Frau ist wie von einem bösen Geist umklammert. Im jüdischen Volksglauben ist dies der teuflische Totengeist des Dybbuk. Zohar Fraiman zeigt die Frau also als eine im wahrsten Sinn Besessene. Womöglich aber ist für sie der Wahn nur eine Form des Nonkonformismus, ein Weg zur Freiheit, soll die Besessene doch einen Mann ehelichen, den sie nicht liebt. Der Stoff ist mehrfach verfilmt worden, jüngst durch Marcin Wronas Dibbuk – Eine Hochzeit in Polen (2015). Von Einfluss auf Zohar Fraiman war zudem der 1981 in Berlin gedrehte deutsch-französische Psychothriller Possession von Andrzej Żuławski. Das Setting auf der Eisfläche ist wiederum der szenischen Kulisse von Christoph Schlingensiefs Egomania – Insel ohne Hoffnung (1986) entlehnt. In diesem auf einer norddeutschen Hallig gedrehten Film begegnen wir einer Frau in rotem Kleid vor einer unendlich weiten, trostlosen Eisfläche, die wiederum an das Gemälde Eismeer /Gescheiterte Hoffnung des Romantikers Caspar David Friedrich erinnert. Zohar Fraiman bedient sich somit eines nur auf den ersten Blick chaotisch wirkenden Zitatenschatzes, der an unser kulturelles Gedächtnis appelliert. Vielleicht erinnert sie aber auch nur an den letzten Besuch im Golden Gate, einem besonders beliebten Berliner Club, in dem sich, halluzinogen aufgeladen, ganz profan all jene Dramen abspielen, die seit je den Stoff für Mythen und Legenden liefern.
entfesselt! Malerinnen der Gegenwart Zohar Fraiman